Gutes Leben ohne Gesundheit: geht gar nicht!

Dass Gesundheit eine der wesentlichen Voraussetzungen für ein gutes Leben ist, mag ebenso banal wie richtig sein. Eine Selbstverständlichkeit ist es dennoch nicht, jedenfalls nicht überall. Im ländlichen Raum, aber auch in benachteiligten städtischen Quartieren ist die medizinische Versorgung auf dem Rückzug. Woran liegt das? Und welche Lösungsansätze gibt es für die vorhandenen Defizite?

Das Klinikum am Bruderwald in Bamberg
Teaser Bild Untertitel
Das Klinikum am Bruderwald in Bamberg (Teilansicht!): Sind solche Großkrankenhäuser als Rückgrat des Gesundheitswesens wirklich „alternativlos“?

von Dr. Gerd Rudel

Eine wichtige Ursache für vorhandene Mängel liegt in der demographischen Entwicklung: Die Ballungsräume wachsen, dort leben viele jüngere (und damit in der Regel: gesündere) Menschen. In den ländlichen Regionen dagegen gehen die Bevölkerungszahlen zurück, der Altersdurchschnitt steigt. Und damit auch der Bedarf an medizinischer Versorgung. Hausärzte und –ärztinnen werden aber pauschal vergütet: ihre Leistungen werden je Quartal mit einem Pauschalentgelt pro Patient abgedeckt, unabhängig davon wie aufwendig die Behandlung ist. Das intensive Gespräch mit den Patient*innen, das für eine Gesundung vielleicht ebenso wichtig ist wie die Verordnung von Medikamenten, fällt dabei schnell unter den Tisch. Auch Hausbesuche, auf denen lange Wege zurückzulegen sind, kommen oft zu kurz.

Gleichzeitig wird die Altersstruktur der Ärzteschaft sehr bald für eine Verschärfung der Situation im ländlichen Raum führen. Viele Ärztinnen und Ärzte, die jetzt noch eine „traditionelle“ Landarztpraxis führen, werden in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen. Und für sie wird es immer schwieriger, eine*n Nachfolger*in zu finden. Nicht zuletzt deshalb, weil das herkömmliche Landarzt-Leben mit einer tendenziellen „Rundum-Verfügbarkeit“ nicht mehr zu den Lebensentwürfen der nachwachsenden Mediziner-Generation passt: Heute spielt die „Work-Life-Balance“ eine andere, oft wichtigere Rolle. 

„Dies gilt sowohl für Ärzte als auch Ärztinnen, deren zunehmend hoher Anteil an den Studienabgängern in Zukunft für eine deutliche „Feminisierung“ der Medizin sorgen wird. Letztere neigen auch vermehrt zum Arbeiten im Angestelltenverhältnis, da hier kalkulierbare Arbeitszeiten und Reduzierung von Bürokratie als leichter realisierbar erscheinen.“[1]

Dass ländliche Regionen eher eine geringen Anteil an Privatversicherten haben und das Einkommensniveau dort generell geringer ist, macht sie für Ärztinnen und Ärzte zusätzlich unattraktiv und wird den Trend zur regionale Unterversorgung noch verstärken.[2] 

Noch deutlicher wird die drohende medizinische Versorgungskrise in ländlichen Regionen, wenn man nicht nur den ambulanten Bereich ins Blickfeld rückt, sondern auch den stationären, also die Krankenhäuser. Als Rückgrat des Gesundheitswesens müssten sie gerade in relativ schwach bevölkerten Gegenden für die notwendige Grundversorgung zuständig sein. Also zum Beispiel für eine Notfall-Ambulanz oder eine Geburtsstation. Solche Einrichtungen vorzuhalten, und zwar unabhängig davon ob gerade ein Unfall passiert ist oder ein Kind geboren wird, kostet Geld für das entsprechende Personal und die unabdingbare Technik. Und genau das ist eine wesentliche Ursache für die derzeitige Krise kleiner Krankenhäuser auf dem Land: Geld bekommen sie für diese Einrichtungen eben nicht, weil sie vorhanden sind, sondern nur, wenn sie auch tatsächlich genutzt werden (was bei einem Kreißsaal ja eher erfreulich ist, bei einer Notfall-Ambulanz aber nicht so sehr…).  

Der Grund hierfür ist das System der sogenannten Fallpauschalen, die die Basis für die Finanzierung der Krankenhäuser sind. Um wirtschaftlich über die Runden zu kommen, müssen also möglichst viele Fälle möglichst schnell behandelt werden. Patient*innen, deren Gebrechen nur mit technisch aufwendigen Geräten zu kurieren sind und für die es entsprechend höhere Fallpauschalen gibt, sind deshalb „attraktiver“ und „lohnender“. Kleine Krankenhäuser auf dem Land können sich diesen Aufwand aber oft nicht leisten. Oder sie müssen sich auf einige wenige lukrative Disziplinen spezialisieren und die Grundversorgung vernachlässigen. 

Vor diesem Hintergrund stellt sich schnell die Existenzfrage, wenn ein Krankenhaus oder eine Abteilung dauerhaft Defizite „erwirtschaftet“.  Ob aber eine Abteilung oder ein ganzes Krankenhaus geschlossen werden soll, hängt vom jeweiligen Krankenhausträger ab. Das sind – gerade auf dem Land – heute immer noch in den meisten Fällen die Landkreise (bzw. die kreisfreien Städte). Und die Entscheidung dieser Träger wird allzu oft nicht von der Sicht und den Bedürfnissen der Patient*innen  bestimmt, z.B. von der Frage, ob es gute und erreichbare Alternativen mit freien Kapazitäten gibt. Sondern ob der Landkreis bereit und in der Lage ist, zum Wohle der Patient*innen und der medizinischen Versorgung die anfallenden Defizite zu tragen. 

 

Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens 

Für den Zustand des Gesundheitswesens spielt also vor allem die Verteilung von Finanzmitteln eine entscheidende Rolle, nicht so sehr die Bedürfnisse der Patient*innen oder die Situation der im Gesundheitswesen beschäftigten Menschen. Denn es geht tatsächlich um Geld, um sehr viel Geld sogar: Der Gesundheitsfonds, in den Zahlungen der (gesetzlich) Versicherten, die Arbeitgeberbeiträge und die Zuschüsse des Bundes fließen und aus dem die gesetzlichen Krankenkassen die erbrachten medizinischen Leistungen bezahlen, beläuft sich – Stand 2018 – auf rund 240 Mrd. Euro – eine immense Summe also. Dass mit diesem Geld sorgfältig und effektiv umgegangen werden muss, steht außer Frage. Ob dies jedoch im Zuge der sogenannten Gesundheitsreformen der vergangenen Jahre auch gelungen ist, vor allem mit Blick auf das Patient*innen-Wohl, darf mit guten Gründen bezweifelt werden. 

Seit Anfang der 1990er Jahren setzt die Gesundheitspolitik – stärker noch als zuvor bereits - auf mehr Markt und Konkurrenz im Gesundheitswesen statt auf eine am Nutzen der Patient*innen, an ihrer „Heilung“ und am gesellschaftlichen Bedarf orientierten Planung. Die Folge ist eine Ökonomisierung des Gesundheitswesens, Geld gibt es für Krankheit, nicht unbedingt für Gesundheit.[3] 

So haben die Fallpauschalen für eine stationäre Behandlung keineswegs – wie beabsichtigt – zur wirtschaftlichen Stabilisierung der Krankenhäuser geführt, sondern zu einer Fokussierung auf möglichst „lukrative“ Fälle. Frühgeburten unter 1.500 Gramm bringen mehr Geld als später Geborene, Kaiserschnitte mehr als natürliche Geburten. Auch  Operationen und andere invasive Prozeduren zahlen sich aus. Dass die Zahl der Operationen an Gelenken, Wirbelsäule und Gallenblase sowie bei kardiologischen Interventionen signifikant gestiegen ist, hängt damit zusammen. So hat im Zeitraum von 2005 bis 2009 die Zahl der Gelenkspiegelungen und Knieprothesen um 20 Prozent zugenommen, Wirbelsäulenoperationen haben sich sogar verdoppelt. Im Vergleich zur Schweiz werden in Deutschland doppelt so viele Knie- und Hüftoperationen durchgeführt und fast viermal so viele Herzkatheter gelegt! [4] Ob das medizinisch notwendig ist, darf bezweifelt werden. 

Mit der Einführung der Fallpauschalen war die Erwartung verknüpft, dass sich effiziente Häuser, vor allem die Großkrankenhäuser in den Ballungszentren, am Markt behaupten und sich die wirtschaftliche Situation stabilisieren würde. Davon kann keine Rede sein. Zudem ist die Personalsituation schwieriger denn je. Wie das aktuelle „Krankenhaus-Barometer“[5] des Deutschen Krankenhausinstituts eindrucksvoll zeigt, ist die wirtschaftliche Lage vieler Häuser immer noch sehr schwierig, der Personalnotstand beim Pflegepersonal wie auch bei den Ärzt*innen besorgniserregend. Bundesweit sind 17.000 Pflegestellen verwaist. Und mehr als drei Viertel aller Kliniken kämpfen damit, Mediziner für vakante Posten zu finden. Und: Je größer die Klinik, desto heftiger sind diese Probleme. 

Dennoch wird das Ziel, die Zahl der Krankenhäuser zu reduzieren und nur noch große Häuser als betriebswirtschaftlich leistungsfähig und gesundheitspolitisch sinnvoll darzustellen, mit großem Aufwand fortgeführt. Zur Konzentration im Kliniksektor gebe es keine Alternative. Statt der gegenwärtig rund 1.600 Kliniken seien 600 (Groß-) Krankenhäuser völlig ausreichend und zudem qualitativ besser.[6] Dass bei einer solchen Strategie gerade die Bedürfnisse älterer und immobiler Bürger*innen, die auf eine wohnortnahe stationäre Versorgung angewiesen sind, unter den Tisch fallen und vor allem ländlich strukturierte Regionen von der stationären Grundversorgung völlig abgehängt würden, fällt dabei völlig unter den Tisch.  

Die hier für die Krankenhäuser beschriebene Ökonomisierung des Gesundheitswesens führt auch in vielen anderen Bereichen zu falschen Anreizen und zur Fehlsteuerung. Nicht das Wohl und der Nutzen der Patient*innen stehen an erster Stelle, sondern Leistungen werden generiert, um Geld zu verdienen: „durch die Verordnung zu vieler und überflüssiger Diagnoseleistungen, durch den Verkauf medizinisch fragwürdiger ‚individueller Gesundheitsleistungen‘, durch die Bevorzugung lukrativer Privatpatientinnen und -patienten, durch die Durchführung von möglichst umfangreichen Behandlungen teilweise ohne ausreichende medizinische Indikation, durch eine so weit gehende Reduktion des Personaleinsatzes, dass keine ausreichende Zeit für notwendige Gespräche zur Anamnese und den psychosozialen Hintergründen einer Erkrankung, adäquate Hygiene und eine angemessene Begleitung des Heilungsprozesses mehr bleibt.“[7]   

 

Umsteuern: Gesundheit finanzieren statt Krankheit 

Wenn der Gesundheitsnutzen für die Menschen im Mittelpunkt des Gesundheitswesens stehen soll und nicht die Möglichkeit, mit Krankheiten Geld zu verdienen, dann erfordert dies ein Umsteuern auf vielen Ebenen: 

  • Die Prävention, noch vor Jahren im Mittelpunkt einer zukunftsorientierten, „ganzheitlichen“ Gesundheitspolitik stehend[8], ist längst wieder ins Hintertreffen geraten – nicht zuletzt weil der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) mit seiner Devise „Geld für Krankheit“ entsprechende Fehlanreize bietet. So ist es nicht verwunderlich, dass in den vergangenen Jahren die Ausgaben der Krankenkassen für Präventionsmaßnahmen dementsprechend gesunken sind. 
  • Die Aufsplittung in Pflegeversicherung und Krankenversicherung hat fatale Folgen: Erkrankungen  wie z.B. Demenz, Rheuma, Multiple Sklerose könnten und müssten verlangsamt werden, die Ermöglichung möglichst großer Eigenständigkeit bei Behinderungen sollte gefördert werden. Beides haben die Krankenkassen aus finanziellem Eigeninteresse nicht im Auge. Denn die Heimunterbringung und die dann notwendigen pflegerischen Leistungen werden nicht mehr von den Krankenkassen, sondern von den Pflegekassen bezahlt.[9] 
  • Ein Grundübel des deutschen Gesundheitssystems ist die Aufspaltung in gesetzliche und private Krankenversicherungen. Die Art und das Ausmaß der Behandlung von Patient*innen darf nicht von der Art ihres Krankenversicherungsschutzes oder ihrer privaten Zahlungsbereitschaft abhängig gemacht werden, sondern einzig nicht von der Schwere ihrer Erkrankung. Ein integriertes Krankenversicherungssystem auf der Basis einer solidarischen Bürgerversicherung, in die alle Berufstätigen und Selbständigen einzahlen, könnte die massiven Fehlanreize des jetzigen Systems vermeiden. 
  • Erhebliche Defizite gibt es auch in der grundlegenden Orientierung des Gesundheitssystems: Nach wie vor dominiert eine kurzfristige, symptomorientierte, letztlich nur reaktive Behandlung. Notwendig wäre aber eine langfristig planende proaktive Versorgung, gerade weil der demografische Wandel, regionale Disparitäten sowie die Zunahme an chronischen Erkrankungen den Bedarf an Integration und Koordination der Gesundheitsversorgung steil ansteigen lassen.[10] 

Die für solche grundlegenden Umbauprozesse notwendigen Schritte werden sich – entsprechende politische Mehrheiten vorausgesetzt – jedoch nicht von heute auf morgen realisieren lassen. In einem Gesundheitssystem, an dem so viele unterschiedliche Handlungsträger ganz unterschiedliche, aber immer auch massive finanzielle Interessen haben, ist das ohnehin schwierig. Umso wichtiger wird es sein, in den Teilbereichen, in denen erste Schritte mehr oder weniger sofort möglich erscheinen, Modellprojekte und auch erste strukturelle Veränderungen anzuschieben. 

 

Strukturveränderungen und Modellprojekte 

Wenn es auf der einen Seite große Probleme gibt, aus Altersgründen frei werdende Praxisplätze zu besetzen, und auf der anderen Seite die Notwendigkeit, eine integrierte, koordinierte und präventive Gesundheitsversorgung zu stärken, dann liegt es nahe, das bisher dominierende Hausarzt-Modell zumindest zu hinterfragen und andere Versorgungsansätze zu fördern.[11] Denn die Einzelpraxis als vorherrschendes hausärztliches Versorgungsmodell hat – das kann schon jetzt festgestellt werden – nur wenige Zukunftschancen. 

Anzustreben wäre eine Integration der verschiedenen Versorgungsansätze im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen, was sowohl fachlich als auch ökonomisch ein erfolgversprechender Lösungsansatz sein dürfte. Dafür sind Interprofessionalität und Kooperationsbereitschaft gefragt. Und es müssen neue innovative Strukturen aufgebaut werden: Betriebsformen, die ambulant tätige multiprofessionelle Teams ermöglichen. Auf diese Weise können dann ärztliche, psychotherapeutische, pflegerische, physiotherapeutische oder auch soziotherapeutische Leistungen „unter einem Dach“ angeboten werden. Ziel eines solchen Ansatzes, der nicht nur die Kooperation unterschiedlicher Fachgruppen der Gesundheitsberufe beinhaltet, sondern auch die Krankenhäuser stärker in die ambulante Versorgung einbinden würde, ist eine optimale Verbindung von präventiver Gesundheitsförderung, medizinischer Versorgung und pflegerischen Dienstleistungen. 

Wie solche regionalen Gesundheitsnetze quer über die verschiedenen Versorgungssektoren im Einzelnen organisiert sind, muss sich an den örtlichen und regionalen Gegebenheiten orientieren. Ein zentraler Bestandteil werden jedoch auf alle Fälle sozialmedizinische Gesundheitszentren sein, möglicherweise auch Polikliniken, die an bestehende Krankenhäuser angeschlossen sind. In Zusammenarbeit mit anderen kommunalen Einrichtungen (z.B. Schulen, Gesundheitsämtern, Altenheimen oder Vereinen) kümmern sich solche Zentren dann auch um den Aufbau flexibler Versorgungsangebote: mobile Stationen, Filialpraxen, aber auch „virtuelle“ medizinische Versorgung mithilfe moderner Informations- und Kommunikationstechnologien. Ob eine solche Versorgungsstruktur allein durch die Selbstorganisation der beteiligten medizinischen Bereiche umgesetzt werden kann, bleibt – insbesondere wenn man die immer noch vorherrschende Tendenz zur gegenseitigen Abschottung bedenkt – abzuwarten, wenn nicht sogar zweifelhaft. Die Kommunen werden wohl in Zukunft eine wesentlich größere aktive Rolle in der Gesundheitsversorgung übernehmen müssen als bisher, auch im Hinblick auf die Trägerschaft solcher sozialmedizinischer Zentren. Weitere mögliche Träger sind Patientenverbände, genossenschaftliche Zusammenschlüsse und natürlich auch die örtlichen Krankenhäuser. 

Ein erster Schritt in die richtige Richtung sind die medizinischen Versorgungszentren (MVZ)[12], von denen seit einer entsprechenden Gesetzesänderung im Jahr 2004 mittlerweile weit über 3.000 im gesamten Bundesgebiet gegründet wurden. Diese fachübergreifenden, ärztlich geleiteten Einrichtungen sollen über die strukturierte Zusammenarbeit von mindestens zwei Ärzt*innen mit unterschiedlichen medizinischen Schwerpunkten und Kompetenzen eine interdisziplinäre Versorgung aus einer Hand gewährleisten. Von den oben beschrieben sozialmedizinischen Zentren mit Einbeziehung anderer Gesundheitsberufe sind diese MVZ aber noch weit entfernt. Wie die Zahlen des Bundesverbands zeigen, sind die meisten MVZ im städtischen Bereich angesiedelt, aber auch zum Erhalt der medizinischen Versorgung im ländlichen Raum tragen sie mittlerweile verstärkt bei.[13] Dort handelt es sich oft um Gründungen oder Beteiligungen der vor Ort existierenden Krankenhausgesellschaften. Aber auch die Kommunen selbst können solche MVZ als Eigenbetriebe betreiben.[14] 

Ein Stück weiter auf dem Weg zu einer integrierten Gesundheitsversorgung sind regionale Gesundheitsnetze.[15] Sie organisieren die Gesundheitsversorgung in multiprofessionellen Versorgungsteams – auch wenn diese (noch) nicht unter einem Dach arbeiten. Im Idealfall übernehmen sie bereits Planung, Qualitätssicherung und Umsetzung von Aufgaben in den Bereichen Prävention und Gesundheitsförderung, Diagnostik, Behandlung, Rehabilitation und Beratung. Solche Gesundheitsnetze existieren bereits in einigen Städten, z.B. in Nürnberg (Gesundheitsnetz Qualität und Effizienz eG) und in Solingen (Solimed – Ärztliches Qualitätsnetz Solingen), aber auch im ländlichen Raum, wie z.B. im Kinzigtal (Gesundes Kinzigtal GmbH), im Landkreis Miltenberg („Gesundheitsregionplus Miltenberg“), in Südbrandenburg (MEDIS - Ärztenetz medizinischer Versorgung Südbrandenburg) und in Lauenburg (Praxisnetz Herzogtum Lauenburg e.V.). Diese Gesundheitsnetze und –unternehmen sind teilweise noch rein ärztlich, zunehmend aber auch schon multiprofessionell zusammengesetzt. 

Projekte, die der Vision sozialmedizinischer Zentren wesentlich näher kommen, gibt es bislang nur wenige, vornehmlich im großstädtischen Bereich und dort in sogenannten „Brennpunkt-Vierteln“ angesiedelt. Zu nennen sind hier vor allem Zentren in Hamburg und Berlin. Die Hamburger Poliklinik Veddel hat ein weit gefächertes Gesundheitsangebot, das zu den komplexen Lebenslagen passt, durch die Menschen krank werden: hausärztliche Versorgung, Sozial- und Rechtsberatung sowie Stadtteilarbeit werden dort im Kollektiv besprochen und entschieden. Und im Berliner Stadtteil Neukölln entsteht auf dem Gelände der ehemaligen Kindl-Brauerei ein Gesundheits- und Sozialzentrum, das Gesundheitskollektiv Berlin, das den sozialräumlich-integrativen sozialmedizinischen Ansatz umsetzen will.  

All diese zukunftsweisenden Projekte – das muss betont werden – basieren auf zivilgesellschaftlichen und privaten Initiativen. Um diese vorbildlichen Ansätze zu verbreitern, insbesondere auch im ländlichen Raum, wo es gilt gleichwertige Lebensbedingungen herzustellen, ist aber auch staatliche und vor allem kommunale Unterstützung gefragt. Es müssen bundes- und landesrechtliche Grundlagen geschaffen und entsprechende Förderprogramme aufgelegt werden. Und die Kommunen müssen sich verstärkt dort, wo diese zivilgesellschaftlichen Initiativen fehlen, selbst als Träger engagieren.[16] 

Noch viel stärker sind die Kommunen bei der Gestaltung der Krankenhauslandschaft gefragt. Denn die Krankenhäuser sind nicht nur ein wesentlicher Eckpfeiler des Gesundheitswesens, sondern sie gehören direkt in den Verantwortungsbereich kommunaler Selbstverwaltung.[17] Als Bestandteil der sozialstaatlichen Daseinsvorsorge und im Hinblick auf die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse sind kommunale Krankenhäuser also unverzichtbar – auch und gerade im ländlichen Raum. Dort spielen sie für die medizinische Grundversorgung in erreichbarer Nähe eine – im Wortsinn – oft lebenswichtige Rolle. Der in vielen Landkreisen beobachtbaren Tendenz, Krankenhausbetten abzubauen oder sogar ganze Kliniken aus finanziellen Gründen zu schließen bzw. an private Aktiengesellschaften zu verkaufen, muss vor dem Hintergrund der skizzierten sozialstaatlichen Verpflichtungen eine klare Absage erteilt werden. 

Dass solche kleinen Kliniken durchaus zu unterhalten sind, ohne in den kommunalen Haushalten unfinanzierbare Defizite zu hinterlassen, zeigen entsprechende Beispiele. Die Main-Klinik Ochsenfurt beispielsweise ist eine Klinik der Grund- und Regelversorgung.[18] Sie ist – als gemeinnützige GmbH – seit 1998 Teil des Kommunalunternehmens im Landkreis Würzburg, das der einzige Gesellschafter der Krankenhaus-GmbH ist. Eine solide wirtschaftliche Grundlage und wohnortnahe Krankenhausversorgung sind also auch heute noch im ländlichen Raum problemlos möglich – wenn dies politisch gewollt ist. 

Ein weiteres Beispiel für den Erhalt kleiner Kliniken im ländlichen Raum stellt das Krankenhaus im brandenburgischen Spremberg dar. Es wurde nach einer drohenden Insolvenz von den Beschäftigten des Hauses übernommen: 51 Prozent der Gesellschafteranteile gehören einem Förderverein der Klinikmitarbeiter*innen, der Rest der Stadt Spremberg. Als gemeinnütziger Träger sichert die Krankenhausgesellschaft die medizinische Grundversorgung (inklusive zweier psychiatrischer Tageskliniken, eines Betriebskindergartens sowie eines MVZ) in Spremberg und den umliegenden Gemeinden.  

Um die stationäre Gesundheitsversorgung in einer Region sicherzustellen, bedarf es einer Krankenhaus-Planung, die auch Landkreisgrenzen überschreitet. Entscheidend muss der jeweilige Versorgungsbedarf sein. Dabei sind die tatsächlichen Wegezeiten zu berücksichtigen, um das Krankenhaus (auch unter widrigen Witterungsbedingungen) zu erreichen, die Rettungszeiten für die Notfallversorgung sowie die Aufrechterhaltung Grundversorgung vor Ort. Klar muss sein: Sofern es keine adäquate Alternative (in der Region in erreichbarer Nähe und ähnlicher Qualität) gibt, darf keine Klinik geschlossen werden.[19] 

 ——————————————— 

Hinweise zum Weiterlesen: 

Karl Blum/Sabine Löffert/Matthias Offermanns/Petra Steffens: Krankenhaus Barometer. Umfrage 2019, Deutsches Krankenhausinstitut, Düsseldorf 2019 

Bündnis Krankenhaus statt Fabrik: Krankenhaus statt Fabrik. Fakten und Argumente zum DRG-System und gegen die Kommerzialisierung der Krankenhäuser. Maintal 2019 

Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): «Wie geht es uns morgen?» - Wege zu mehr Effizienz, Qualität und Humanität in einem solidarischen Gesundheitswesen. Bericht der Gesundheitspolitischen Kommission «Mehr Gesundheitseffizienz: Von der Kranken- zur Gesundheitsversicherung – neue Anreiz- und Steuerungsstrukturen im Gesundheitswesen» der Heinrich-Böll-Stiftung. Berlin 2013 

Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg (Hrsg.): Zukunftsfähige Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum. Ergebnisse aus dem Modellprojekt zur ambulanten Versorgung in der Region Schwarzwald-Baar-Heuberg. Stuttgart 2019 

Robin Mohan: Die Ökonomisierung des Krankenhauses. Eine Studie über den Wandel pflegerischer Arbeit. Bielefeld 2019 

Rosa Luxemburg Stiftung (Hrsg.): Gesundheit ist eine Ware. Mythen und Probleme des kommerzialisierten Gesundheitswesens. luxemburg argumente Nr. 6 (3., vollständig überarbeite Auflage), Berlin  2017

 


 

[1] Hans-Erich Singer: Neue Bedarfsplanungsrichtlinien der KVB. Bewertung aus der Sicht des Landarztes. In: Institut für Entwicklungsforschung im Ländlichen Raum Ober- und Mittelfrankens e. V. (Hrsg.): Gesundheitsversorgung im Ländlichen Raum. Ist eine dauerhafte Sicherung möglich? Status quo, Chancen und Hemmnisse einer angemessenen Gesundheitsversorgung in Ober- und Mittelfranken. O. O. 2013, S. 24. Ähnlich Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg (Hrsg.): Zukunftsfähige Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum. Ergebnisse aus dem Modellprojekt zur ambulanten Versorgung in der Region Schwarzwald-Baar-Heuberg. Stuttgart 2019, S. 7ff.

[2] Vgl. Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): «Wie geht es uns morgen?» - Wege zu mehr Effizienz, Qualität und Humanität in einem solidarischen Gesundheitswesen. Bericht der Gesundheitspolitischen Kommission «Mehr Gesundheitseffizienz: Von der Kranken- zur Gesundheitsversicherung – neue Anreiz- und Steuerungsstrukturen im Gesundheitswesen» der Heinrich-Böll-Stiftung. Berlin 2013, S. 26

[3] Vgl. dazu z.B. Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), a.a.O.; Rosa Luxemburg Stiftung (Hrsg.): Gesundheit ist eine Ware. Mythen und Probleme des kommerzialisierten Gesundheitswesens. luxemburg argumente Nr. 6 (3., vollständig überarbeite Auflage), Berlin  2017; Robin Mohan: Die Ökonomisierung des Krankenhauses. Eine Studie über den Wandel pflegerischer Arbeit. Bielefeld 2019; Anja Dieterich/Bernard Braun/Thomas Gerlinger/Michael Simon (Hrsg.): Geld im Krankenhaus. Eine kritische Bestandsaufnahme des DRG-Systems, Wiesbaden 2019

[4] Vgl. Rosa Luxemburg Stiftung 2017, a.a.O., S. 25

[5] Vgl. Karl Blum/Sabine Löffert/Matthias Offermanns/Petra Steffens: Krankenhaus Barometer. Umfrage 2019, Deutsches Krankenhausinstitut, Düsseldorf 2019

[6] Vgl. etwa Stefan Loos/Martin Albrecht/Karsten Zich: Zukunftsfähige Krankenhausversorgung. Simulation und Analyse einer Neustrukturierung der Krankenhausversorgung am Beispiel einer Versorgungsregion in Nordrhein-Westfalen, Gütersloh 2019. Kritisch dazu Stefan Sell: Die große Flurbereinigung: Viel weniger ist angeblich viel mehr. Der mit betriebswirtschaftlichem Furor anvisierte Umbau der deutschen Krankenhauslandschaft wird mit der medialen Brechstange vorangetrieben. In: Aktuelle Sozialpolitik, 19.7.2019
Interessantes Detail am Rand: Brigitte Mohn sitzt nicht nur im Aufsichtsrat der Bertelsmann-Stiftung, die die genannte Studie in Auftrag gegeben hat, sondern auch im Aufsichtsrats der Rhön-Privatkliniken AG, die ein unmittelbares finanzielles Interesse an einer Krankenhaus-Konzentration hat.

[7] Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), a.a.O., S. 14f.

[8] Vgl. pars pro toto Michael Opielka/Ilona Ostner (Hrsg.): Umbau des Sozialstaats. Bielefeld 1987. Dort v.a. das Kapitel „Anders helfen“ (S. 309-454)

[9] Vgl. Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), a.a.O., S. 22

[10] Vgl. ebd., S. 34

[11] Vgl. zum Folgenden Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), a.a.O., S. 34-41; Rosa Luxemburg Stiftung (Hrsg.), a.a.O., S. 35ff.; Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg (Hrsg.), a.a.O.; Isabella Haidl/Felix Heit/Marcus Kratschke/Simon Reichenwallner: Gesundheitsversorgung in der Fränkischen Schweiz – Lösungen für eine lebenswerte Zukunft. In: Institut für Entwicklungsforschung im Ländlichen Raum Ober- und Mittelfrankens e. V. (Hrsg.), a.a.O., S. 10ff.

[12] Vgl. die Informationen auf der Website des Bundesverbands medizinischer Versorgungszentren. Aktuelle Zahlen (Stichtag 31.12.2018) finden sich hier.

[13] MVZ bieten gegenüber der herkömmlichen Landarzt-Praxis zudem etliche Vorteile, die den Ansprüchen und Bedürfnissen der nachrückenden Mediziner-Generation, insbesondere dem weiblichen Teil, entgegenkommen: sie ermöglichen flexible Arbeitszeitmodelle, entlasten von nicht-medizinischen Tätigkeiten, bieten finanzielle Sicherheit im Angestelltenverhältnis und schaffen den Rahmen für Teamarbeit.

[14] Die gesetzliche Grundlage dafür bietet SGB V, § 91, Abs. 1a: „Medizinische Versorgungszentren können (…) von Kommunen gegründet werden.“

[15] Vgl. die Website der Agentur deutscher Ärztenetze mit weiteren Hinweisen auf interessante Projekte.

[16] Wie das kommunale Engagement im Gesundheitsbereich schrittweise auf- und ausgebaut werden kann, wird sehr gut aufgezeigt in Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg (Hrsg.), a.a.O., S. 22-36

[17] Gesundheitswesen und Krankenhäuser gehören zum sogenannten „eigenen Wirkungskreis“ der Landkreise und der kreisfreien Städte. Das ist der Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung. Siehe die entsprechenden Passagen in der Bayerischen Landkreisordnung (Art. 51, Abs. 2 und 3) und der Bayerischen Gemeindeordnung (Art. 57, Abs. 1).

[18] Vgl. Alexander Schraml: Eine kommunale Klinik sucht und findet Partner! Wie medizinische Versorgung im Ländlichen Raum gelingen kann. In: Institut für Entwicklungsforschung im Ländlichen Raum Ober- und Mittelfrankens e. V. (Hrsg.), a.a.O.,, S. 13-17

[19] Vgl. dazu ausführlich Bündnis Krankenhaus statt Fabrik: Krankenhaus statt Fabrik. Fakten und Argumente zum DRG-System und gegen die Kommerzialisierung der Krankenhäuser. Maintal 2019, S. 106-113