Mehr Beteiligung! Auf dem Weg zur Mitmach-Demokratie!?

Wenn vom „guten Leben“ die Rede ist, dann kann und darf sich das nicht nur auf die unmittelbaren individuellen Lebensumstände (Wohnen, Gesundheit, Ernährung, Job) beziehen, sondern muss auch die Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben umfassen. Kein Problem, sollte man meinen, in einem demokratisch verfassten Staat wie der Bundesrepublik Deutschland ist dies doch per Verfassung festgeschrieben. Doch ist mit regelmäßig stattfindenden Wahlen und eher seltenen Bürgerentscheiden diese Teilhabe schon ausreichend gewährleistet? Oder sind dafür noch andere, weitergehende Beteiligungsformen notwendig und sinnvoll?

Sprechblase aus Papier mit drei zerknüllten Papierkugeln

von Dr. Gerd Rudel

Schon ein kurzer Blick auf die politische Wirklichkeit in diesem Lande zeigt eine – jedenfalls auf den ersten Blick – widersprüchliche Lage: Zum einen ist eine zunehmende Unzufriedenheit mit dem politischen Geschehen zu konstatieren, die oft genug in Verbitterung und offenen Hass gegenüber der „politischen Klasse“ umschlägt. Anlass dafür gibt es ja in Hülle und Fülle: Lobbyismus und Bestechlichkeit auf allen Ebenen (von der Masken-Affäre  bis hin zum aus dem Dienst entfernten Regensburger Oberbürgermeister, um nur zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zu nennen) oder die immer offenkundigere Unfähigkeit zu einem durchdachten und konsequenten Umgang mit der Corona-Pandemie lassen bei vielen Bürger*innen die Zweifel an der Politik und, schlimmer noch, an der Demokratie überhaupt wachsen. Die seit Jahren sinkende Wahlbeteiligung ist dafür ebenso ein Indikator wie die steigende Zustimmung zu rechtsautoritären Parteien und verschwörungstheoretischen Bewegungen.

Auf der anderen Seite gibt es aber auch eine imposante Bereitschaft in breiten Teilen der Bevölkerung, sich zu engagieren, sich einzumischen in die Gestaltung des Gemeinwesens und der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse[1]. Das gilt nicht nur für eine globale Bewegung wie „Fridays for Future“, sondern auch, und vielleicht stärker noch, für die vielen Vereine, Projekte und zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich – zumeist auf kommunaler Ebene – um konstruktive Beiträge zur Politik bemühen. Zweifellos: nicht immer gerade zur Freude der jeweils politisch Verantwortlichen…

Wenn diese – zugegeben: skizzenhafte  und zugespitzte – Zustandsbeschreibung auch nur ansatzweise korrekt ist, dann sollte auch klar sein, wo ein wesentlicher Ansatzpunkt für eine Revitalisierung des demokratischen Diskurses und zur Eindämmung populistischer, autoritärer oder gar rechtsextremer „Lösungs“-Ansätze liegt: in der verstärkten und systematischen Beteiligung der Bürger*innen an politischen Entscheidungsprozessen. Dabei werden die Partizipationsprozesse auf kommunaler Ebene – so jedenfalls unsere These –  eine besonders wichtige Rolle spielen.

Es hat zwar vereinzelte Versuche gegeben, solche Partizipationsprozesse auch auf Landes- und Bundesebene anzugehen. In Bayern etwa wurde im Jahr 2004 das Bürgergutachten zum Gesundheitswesen erarbeitet. Und auf Bundesebene hat es einen „Bürgerdialog“ zum guten Leben in Deutschland gegeben[2]. Ohne hier den guten Willen der jeweils Verantwortlichen bestreiten zu wollen, bleibt aber doch kritisch festzuhalten: Diese Beteiligungsformen konnten kaum öffentliche Wirkung entfalten und blieben – auch deshalb! - politisch weitgehend folgenlos.[3]

Die Kommune gilt historisch in Form der griechischen Polis als Wiege der Demokratie. Auch heute noch wird die Kommunalpolitik - jedenfalls in Lehrbüchern und Sonntagsreden - gerne als „Schule der Demokratie“ bezeichnet. Und es ist ja richtig: In der Kommune, dort wo man lebt und sich auskennt, kann Demokratie direkt er- und gelebt werden. Ganz im Gegensatz zu dieser prinzipiell positiven Einschätzung werden Kommunalpolitiker*innen vom „Wahlvolk“ eher negativ bewertet: Klüngel-Wirtschaft und Pöstchen-Schieberei - mit solchen Begriffen sind viele Bürger*innen schnell bei der Hand, wenn sie nach ihrer Meinung zur Kommunalpolitik gefragt werden. Die sehr schwache Beteiligung an Kommunalwahlen[4]  spricht eine deutliche  Sprache, was die Distanz der Bürgerinnen zur eigentlich so „bürgernahen“ Kommunalpolitik angeht.

Wenn nicht einmal mehr die Hälfte des Wahlvolks wählen geht, dann ist die Kommunalpolitik offenbar für die Mehrzahl der Bürgerinnen ein Terrain, das ihnen nur marginale Einflussmöglichkeiten verspricht. Egal ob die Entscheidungen im Rahmen einer eher traditionellen (und gerade im ländlichen Raum immer noch verbreiteten) Honoratiorenpolitik fallen oder Ergebnis der mittlerweile auch in den Kommunalparlamenten dominierenden Parteipolitik sind: Die Bürger*innen fühlten und fühlen sich von dieser Art Kommunalpolitik nicht angezogen.

Dass die Abstinenz am Wahltag keineswegs ein generelles Desinteresse an kommunalpolitischen Fragen bedeutet, zeigen auf der anderen Seite die vielfältigen Formen politischen Engagements der Bürgerschaft. Die Bürgerinnen wollen sich in den politischen Entscheidungsprozess einmischen, sie wollen gehört werden und ihre Wünsche, Bedenken oder Einwendungen berücksichtigt sehen[5].

Kommunalpolitik als „Mitmach-Demokratie“ ist ein wichtiger Beitrag zum Abbau der scheinbar allgegenwärtigen Politik(er)-Verdrossenheit. Die demokratische Qualität formaler wie auch informeller Beteiligungsverfahren hängt jedoch davon ab, wie ernst gemeint und auf echte Partizipation der Bürger/innen abzielend diese Beteiligungsangebote tatsächlich sind. Was notwendig ist, wird immer deutlicher: eine systematische Beteiligungskultur in den Kommunen. Im Kern verfolgt eine verstärkte Partizipation das Ziel, die Bürger*innen an den kommunalen Entscheidungen aktiv zu beteiligen,

  • um deren Wissen und Erfahrungshorizont mit einzubeziehen und dadurch zu zielgenaueren Entscheidungen zu kommen (Stichwort: Bürgerinnen als Ressource),
  • um näher an die Lebenswirklichkeit der Betroffenen - die sich häufig von der Lebenswirklichkeit der politischen Entscheidungsträger*innen unterscheidet - zu gelangen (Stichwort: Betroffene zu Experten machen),
  • um die in einer Demokratie notwendige Transparenz zu schaffen,
  • um die Akzeptanz von politischen Entscheidungen zu erhöhen.

Wenn von „Beteiligung“ die Rede ist, dann sollte aber sorgfältig unterschieden werden, um welche Form von Beteiligung es sich jeweils handelt.

1. Die tradierten Formen der repräsentativen Demokratie. Auch hier findet natürlich Beteiligung statt, doch kann die repräsentative Demokratie immer weniger beanspruchen, für alle zu sprechen. Sie ist sozial, demografisch und auch hinsichtlich des Geschlechts selektiv. Repräsentative Demokratie wird – immer noch! - von männlichen Mittelstandspersonen mittleren Alters dominiert!

2. Die direkt-demokratischen Formen der Beteiligung, die sich innerhalb der Bevölkerung enormer Wertschätzung erfreuen (übrigens: unabhängig von der Parteipräferenz – auch Anhänger „rechter“ Parteien befürworten direkte Demokratie!). Bürgerbegehren und Bürgerentscheide sind mittlerweile etablierte Instrumente plebiszitärer Demokratie auf kommunaler Ebene[6]. In Bayern wurden diese Instrumente im Jahr 1995 per Volksentscheid in der Bayerischen Verfassung und im Kommunalrecht verankert. Die Bürger*innen in Bayern machen davon rege Gebrauch. Offensichtlich gibt es ein breites Bedürfnis, sich auch als “Entscheidungsorgan” an den kommunalen Belangen zu beteiligen - und zwar je größer eine Kommune desto häufiger. In vielen Städten finden Bürgerbegehren und Bürgerentscheide mittlerweile regelmäßig statt. Dennoch kann die Praxis - entgegen mancher Befürchtungen gerade in den Ratsgremien - keineswegs als “ausufernd” beschrieben werden. Die Bürgerinnen haben offenbar ein gutes Gespür dafür, ob und wann das Instrument Bürgerbegehren angemessen und sinnvoll einzusetzen ist[7]. Dennoch sollte man immer auch die Grenzen dieses direkt-demokratischen Instruments sehen: Es geht um ein „Ja“ oder ein “Nein“. Kompromisse und Zwischenlösungen sind an dieser Stelle nicht (mehr) möglich. Entsprechend konfrontativ sind oft genug die Auseinandersetzungen im Verlauf solcher Bürgerentscheids-Kampagnen. Sie führen zwar zu einer Entscheidung in einer strittigen Frage, können aber auch nachhaltige Spaltungen innerhalb der Bürgerschaft verursachen - eine sicherlich unerwünschte Folge eines prinzipiell positiv zu bewertenden Beteiligungsinstruments. Insofern sollte immer versucht werden, durch den Einsatz eher konsensorientierter Beteiligungsformate zu Lösungen zu kommen, die solche Konfrontationen vermeiden. Der Bürgerentscheid stünde dann eher am Schluss eines umfangreicheren Beteiligungsprozesses: als demokratische Legitimation des dort erarbeiteten Ergebnisses oder aber als Entscheidung zwischen den dort deutlich gewordenen, aber letztlich unvereinbaren Lösungsalternativen.

3. die deliberativen Beteiligungsformen, die zu allen Themen möglich und in allen Lebensbereichen notwendig sind und mit denen wir uns im Folgenden ausführlich befassen wollen.

Neben diesen Beteiligungsverfahren im engeren Sinne sollten jedoch andere Engagement-Formen nicht übersehen werden, die für Beteiligungsprozesse von Bedeutung sind. Dazu gehören zum einen Bürgerinitiativen und soziale Bewegungen, die erheblich stärker genutzt werden als etwa Parteien und Verbände und sich durch die fallweise und situative Nutzung auszeichnen. Lokale Bürgerinitiativen zu allen denkbaren kommunalpolitischen Themen gibt es seit den siebziger Jahren. In den vergangenen zwanzig Jahren kamen zu diesen zunächst eher oppositionellen Bewegungen weitere bürgerschaftliche Engagement-Formen dazu, die eher auf Kooperation und Konsens setzen und teilweise sogar von den Kommunen selbst initiiert wurden (z.B. im Rahmen der Lokalen Agenda 21). Zum anderen sollen die vielfältigen Formen bürgerschaftlichen Engagements nicht unerwähnt bleiben, mit und in denen sich die Bürger*innen – in Vereinen, Projekten, Initiativen usw. – an der Gestaltung des lokalen Gemeinwesens beteiligen. Dieses bürgerschaftliche Engagement kann gerade auf kommunaler Ebene prägend sein und hat durchaus großes politisches Potenzial, weil sich auf diese Weise „im Kleinen“ etwas gestalten lässt.

Eine echte Beteiligungskultur muss auf all diesen Säulen beruhen, alle haben ihre legitime Berechtigung. Im Folgenden wollen wir uns vor allem mit der dritten Säule, den deliberativen Beteiligungsformen, befassen. Denn hier sind immer noch die größten Defizite zu konstatieren: Noch nicht einmal 100 Kommunen in der Bundesrepublik Deutschland nutzen das Instrument der Bürgerbeteiligung strategisch und systematisch, ähnlich sieht es bei der Zahl der kommunalen Partizipationsbeauftragten aus[8]. Dem offenkundig großen Handlungsbedarf stehen aber, wie wir noch sehen werden, vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten gegenüber.

Wenn eine echte Beteiligungskultur entstehen soll, dann ist mehr nötig als ein sporadisches und bruchstückhaftes Experimentieren mit dem einen oder anderen Beteiligungselement. Wenn die Bürger*innen mitplanen, mitentscheiden und mitgestalten wollen und sollen, dann kann dies nur in systematischer, das heißt: formalisierter und institutionalisierter Form geschehen. Dies kann personalisiert durch entsprechende Beauftragte geschehen oder über Leitlinien oder kommunale Satzungen. Häufig gibt es sogar beides. Die Institutionalisierung sorgt für Transparenz und Sicherheit bei allen Beteiligten.

Eine solche systematische Bürgerbeteiligung muss mehrere Voraussetzungen und Kriterien[9] erfüllen:

  • umfassend: Information über alle Planungen.
  • so früh wie möglich: nur dann können auch Alternativen diskutiert und deren Vor- und Nachteile abgewogen werden.
  • ergebnisoffen: nur dann fühlen sich die Bürgerinnen ernstgenommen.
  • möglichst repräsentativ und sozial inklusiv: nur wenn allen Bürgerinnen die Teilhabe am Beteiligungsprozess ermöglicht wird, kann verhindert werden, dass die Beteiligung zur exklusiven Spielwiese der besser ausgebildeten und wohlhabenden Bevölkerungsschichten wird.[10]
  • Rechenschaft: nach der Entscheidung des Gemeinde- oder Stadtrats muss erläutert werden, was aus den Beteiligungsergebnissen gemacht wurde, vor allem dann, wenn in wichtigen Punkten vom Beteiligungsergebnis abgewichen wurde.

Ein äußerst wichtiger Bestandteil einer solchen Beteiligungskultur ist eine Vorhaben-Liste[11], in der die Kommunalverwaltung alle vorgesehenen Planungen aufnimmt und die Bürger*innen die Möglichkeit haben, eine Beteiligung zu beantragen. Oft wird dies schon vom federführenden Amt selbst vorgeschlagen. Für jedes Vorhaben ist ein spezifisches, dem Projektcharakter angemessenes Verfahren zu entwickeln. Denn für Beteiligungsprozesse gibt es nicht die  „richtige“ und mit Sicherheit erfolgreiche Methode. Wichtig ist vielmehr ein differenziertes Methodenspektrum, das je nach Sachlage situationsangemessen eingesetzt werden kann.

Da die Qualität der Bürgerbeteiligung wesentlich von den Informationen abhängt, die den Bürger*innen vorliegen, muss die Verwaltung umfassend, verständlich und transparent informieren. Gerade bei komplexen Verfahren ist dies nicht einfach. Fachjargon, Verwaltungskauderwelsch oder Planungsdeutsch sind für viele Bürger*innen eine unüberwindliche Kommunikationshürde. Zudem ist es sinnvoll und notwendig, möglichst alle verfügbaren Kommunikationswege zu beschreiten, um die relevanten Informationen verfügbar zu machen. Visualisierungen und interaktive Möglichkeiten sollten genutzt und Unterlagen auch online zur Verfügung gestellt werden.

Von vornherein sind Umfang, Reichweite und auch eventuelle Grenzen der Beteiligung klarzustellen. Die Bürger*innen müssen wissen, warum, wofür, wann, womit, wie lange und mit wem ein Beteiligungsprozess stattfindet. Dazu gehört auch, die Rolle der jeweiligen Entscheidungsgremien deutlich zu machen und ggf. ihre letztliche Verantwortlichkeit für einen endgültigen Beschluss (z.B. Satzungsbeschluss eines Bebauungsplans) zu betonen. Den deliberativen Beteiligungsverfahren kommt in aller Regel keine Entscheidungskompetenz zu. Beteiligung heißt hier: Die Bürgerinnen werden nach ihrer Meinung gefragt, sie dürfen beraten und mitplanen. Entscheidung aber erfordert demokratische Legitimation. Die hat das demokratische gewählte Gremium: Kreistag, Stadt- oder Gemeinderat. Oder eben die Gesamtheit der Bürgerinnen in Form des Bürgerentscheids. Viele Frustrationen und Enttäuschungen nach aufwendigen Beteiligungsprozessen entstehen, weil diese Grenze zwischen Partizipation und Entscheidung nicht deutlich genug betont wurde.

Ganz entscheidend für das Gelingen einer solchen Beteiligungskultur ist die Haltung: Beteiligung muss gewollt werden. Nicht zuletzt von der Verwaltungsspitze und vom Ratsgremium. Und es braucht eine Person vor Ort, die zum Kristallisationspunkt dieses Prozesse wird. Klar muss auch sein: Eine lebendige Beteiligungskultur kostet Zeit und Geld. Die Mitarbeiter*innen in den Verwaltungen müssen entsprechend geschult werden. Auch die Aufbereitung der Informationen und die Durchführung der eigentlichen Beteiligungsprozesse sind ohne entsprechende Ressourcen nicht zu leisten. Die „Belohnung“ für diesen Mitteleinsatz: eine lebendige Partizipationskultur, die die Legitimität der (Kommunal-) Politik und damit des gesamten Gemeinwesens stärkt und erhöht.

Die Anzahl und Vielfalt möglicher Beteiligungsverfahren[12] hat in den vergangenen Jahren rasant zugenommen. Die einzelnen Verfahren sind nicht immer klar abgrenzbar, Überschneidungen und Weiterentwicklungen, die Integration neuer Elemente liegen in der Natur der Sache. Schon die Aufzählung einiger weniger Beteiligungsverfahren, die in den vergangenen Jahren in Deutschland häufig angewendet wurden, zeigt diese enorme Vielfalt: Bürgerbeteiligung innerhalb der Bauleitplanung, Leitbildprozesse, Bürger- oder Beteiligungshaushalt, runde Tische, Zukunftswerkstätten und Zukunftskonferenzen, Open-Space-Konferenzen, in Planungszellen erstellte Bürgergutachten, Quartiersmanagement – all das gehört in vielen deutschen Städten, Gemeinden und Landkreisen mittlerweile – manchmal mehr, manchmal weniger – zum kommunalpolitischen Alltag.

Schon dieser knappe Überblick zeigt: An durchdachten und praktisch erprobten Methoden und Konzepten, die Bürgerinnen an Planungs- und Entscheidungsprozessen teilhaben zu lassen, fehlt es wahrlich nicht. Wenn der politische Wille vorhanden ist, solche Beteiligungsprozesse auf lokaler Ebene ernsthaft zu betreiben, dürfte es also nicht schwer sein, für ein konkretes Problem oder ein geplantes Projekt aus diesem breiten Methodenspektrum ein passgenaues Verfahren zu basteln. Das für immer und alle Zwecke passende Verfahren gibt es sicher nicht. Eher kommt es darauf an, Elemente einzelner Verfahren in sinnvoller Weise zu kombinieren oder mehrere Methoden zeitlich aufeinanderfolgen zu lassen, um eine adäquate Beteiligung der Bürger*innen zu erreichen.

Dass die kommunale Demokratie durch mehr Bürgerbeteiligung gestärkt werden muss, ist mittlerweile unbestritten. Das Internet kann dazu einen wesentlichen Beitrag leisten[13]. Es ermöglicht eine aktive Beteiligung der Bürger*innen, die andere Medien gar nicht oder zumindest nicht in dem Umfang wie Internet-basierte Anwendungen bieten. Wenn also die aktive Rolle der Bürgerinnen im Zentrum steht, dann heißt “Nutzung des Internets für die Kommunaldemokratie” sehr viel mehr, als z.B. die Unterlagen im Rahmen der Bürgerbeteiligung zu einem Bebauungsplanverfahren zum Herunterladen zur Verfügung zu stellen. Das sollte mittlerweile eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Gleichzeitig müssen die Bürger*innen auf die bestehenden Beteiligungsmöglichkeiten aufmerksam gemacht werden, um sie für eine Beteiligung zu mobilisieren. Dafür sind soziale Medien wie Twitter, Instagram, YouTube oder Facebook zu nutzen.

Gerade die sozialen Netzwerke könn(t)en für eine politische „Echtzeitkommunikation“ mit den Bürger*innen und – in einer immer stärker monopolisierten lokalen Medienlandschaft - dazu dienen, die Bürger*innen direkt, schnell und unverfälscht zu erreichen - ohne auf die Mitwirkung der möglicherweise einzigen Tageszeitung vor Ort angewiesen zu sein. Allerdings werden die sozialen Netzwerke oft noch lediglich als  weitere Kanäle für die üblichen Pressemitteilungen begriffen statt als Chance für einen echten Dialog mit den Bürger*innen, bei dem die Rückmeldungen ernst genommen und als Ressource für die Verbesserung der eigenen Politik angesehen werden. Die Beteiligung via Internet bietet also eine niedrigschwellige Möglichkeit, Ideen und Anregungen der Bürgerinnen zu sammeln und zu diskutieren. Sie ist zudem - für die Bürger*innen - nicht mit dem Zeit- und Organisationsaufwand verbunden, der formale Beteiligungsverfahren ansonsten allzu oft zu einer Angelegenheit weniger Privilegierter macht.

Fazit

Zwar ist es mittlerweile Konsens, dass mehr Bürgerbeteiligung notwendig ist, um die Legitimität politischer Entscheidungen zu stärken und auf diese Weise die demokratische Qualität des politischen Systems insgesamt zu steigern. Dennoch hat diese Einsicht auch Unsicherheiten und Bedenken hervorgerufen. Denn die Grundlage des politischen Systems in Deutschland ist die repräsentative Demokratie. Ob und wie ein Mehr an Bürgerbeteiligung mit den Rechten und Pflichten der demokratisch gewählten Repräsentativorgane „zusammenpassen“, ist durchaus nicht unumstritten. Gerade auf kommunaler Ebene fühlen sich die Ratsmitglieder oft genug durch die Wünsche der Bürger*innen nach besserer Beteiligung auch zwischen den Wahlen in ihrer Rolle verunsichert, ja sogar bedroht. Denn wenn ohnehin alles über die Bürgerbeteiligung läuft, warum - so fragt sich zugespitzt wohl manches Ratsmitglied - sollte ich mich da überhaupt noch im Gemeinderat engagieren, der doch nur die Ergebnisse der Beteiligungsprozesse „abnicken“ muss?

Es wird in der Zukunft darum gehen, die repräsentative Demokratie durch plebiszitäre und deliberative Elemente zu ergänzen. Viele Kommunen befinden sich derzeit in einem „Experimentierstadium“, auch in Bayern. Wenn diese Experimente dazu führen sollen, dass die Legitimität politischer Entscheidungen gestärkt und die kommunale Demokratie insgesamt belebt wird, dann müssen die gewählten Modelle der Bürgerbeteiligung immer wieder kritisch anhand der eingangs skizzierten Kriterien überprüft werden. Und es sollte immer bedacht werden, dass auch eine differenzierte Beteiligungsstrategie angesichts der Vielzahl von Entscheidungen, die in einer Kommune allwöchentlich zu treffen sind, ein repräsentatives Ratsgremium niemals völlig ersetzen kann.

Das heißt: Es muss immer sehr sorgfältig überlegt werden, ob und für welche Projekte die knappen zeitlichen und finanziellen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden können, um eine echte und durchdachte Beteiligungsstrategie umzusetzen. Ob dabei lediglich beratende und/oder planende Beteiligungsverfahren zum Zuge kommen oder eine Entscheidung durch die Bürgerinnen generiert bzw. die Beratungs- und Planungsebene mit der Entscheidungsfindung verbunden werden soll, ist in jedem Einzelfall abzuwägen. Darüber hinaus sind die Kommunen aber aufgefordert, gerade bei den gesetzlich vorgeschriebenen Beteiligungsverfahren eine lebendige Beteiligungskultur zu entwickeln, die über die vorgeschriebenen Mindestanforderungen deutlich hinausgeht. Auf diese Weise kann ein Mix aus deliberativen, repräsentativen und plebiszitären Elementen entstehen, der für eine attraktive (Kommunal-) Demokratie sorgt, deren „Output“ eine für alle Bürger*innen nachvollziehbare Legitimität besitzt - auch wenn sie im konkreten Einzelfall vielleicht eine abweichende Auffassung vertreten. Denn eines darf auch von einer optimal gestalteten kommunalen Mitmach-Demokratie nicht erwartet werden: dass für jedes Problem eine Konsenslösung gefunden werden kann und sich alle gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Interessengegensätze auf diesem Wege in Wohlgefallen auflösen werden.


 

Fußnoten:

 [1] Im Jahr 2017 engagierten sich von den in Deutschland lebenden Menschen ab 14 Jahren rund 31 Mio. ehrenamtlich. Das sind 44% der Bevölkerung und damit rund 10% mehr als noch im Jahr 1997. Weitere Zahlen und Details zu Quellen der Engagement-Forschung finden sich auf der Website der Stiftung Aktive Bürgerschaft.

[2] Kritisch dazu der Artikel „Wenn sich eine Bundesregierung mit dem guten Leben befasst…“ auf diesem Portal.

[3] Ob es dem jüngst an den Bundestag übergebenen Bürgergutachten „Deutschlands Rolle in der Welt“ anders und besser ergehen wird, bleibt abzuwarten. Zweifel sind gerade angesichts des sensiblen Themas aber mehr als angebracht.

[4] In Bayern z.B. sank die Wahlbeteiligung bei den Stadtratswahlen in den kreisfreien Städten von 86,8% im Jahr 1946 kontinuierlich und stagniert seit den Wahlen im Jahr 2008 auf niedrigem Niveau unter 50%.

[6] Vgl. Mehr Demokratie e.V. (Hrsg.): Bürgerbegehrensbericht 2020. Berlin 2020

[7] Vgl. dazu den Überblick zu den Erfahrungen in Bayern zwischen 1995 und 2015.

[8] Vgl. als Überblick die Sammlung kommunaler Leitlinien und Handlungsempfehlungen für Bürgerbeteiligung auf der Website des Netzwerks Bürgerbeteiligung. Bei dieser Sammlung ist zu bedenken, dass die einzelnen Kommunen sich auf sehr unterschiedlichem Niveau bewegen. Es sind dort Städte und Gemeinden mit langjähriger Erfahrung und detaillierten Verfahrensregelungen ebenso vertreten wie solche, die erst am Anfang eines systematischen Beteiligungsprozesses stehen.

[9] Vgl. dazu Netzwerk Bürgerbeteiligung: „Qualitätskriterien Bürgerbeteiligung“ im Netzwerk Bürgerbeteiligung. O.O., o.J. Wie eine solche systematische Beteiligungskultur entstehen und entwickelt werden kann, haben Helmut Klages und Angelika Vetter eindrucksvoll am Beispiel Heidelbergs analysiert. Vgl. Helmut Klages/Angelika Vetter: Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene. Perspektiven für eine systematische und verstetigte Gestaltung. Berlin 2013

[10] Die Mitwirkung aller Akteursgruppen an der Bürgerbeteiligung zu gewährleisten, ist immer noch eine der anspruchsvollsten Aufgaben. Vgl. dazu einige Hinweise auf der Website des Netzwerks Bürgerbeteiligung und eine jüngst erschienene Veröffentlichung der Stiftung Mitarbeit (Stiftung Mitarbeit (Hrsg.): Zugänge erschließen, Austausch ermöglichen, Bonn 2021).

[11] Solche Vorhaben-Listen existieren beispielsweise in Heidelberg und Bonn. Beide Städte haben in vieler Hinsicht vorbildliche Verfahrensregeln entwickelt.

[12] Einen umfassenden Überblick über das Methodenspektrum gibt es auf der Website des „Wegweisers Bürgergesellschaft“. Außerdem gibt es inzwischen diverse Handbücher, die eine Einführung in die Methodenvielfalt bieten. Siehe dazu unsere Literaturhinweise.

[13] Vgl. dazu die Seite „Web 2.0 und Bürgerbeteiligung“ beim Netzwerk Bürgerbeteiligung. Auch zahlreiche Buchveröffentlichungen befassen sich mittlerweile mit diesem Thema. Siehe dazu unsere Literaturhinweise.

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Literaturhinweise und nützliche Links:

Allianz Vielfältige Demokratie/Stiftung Zukunft Berlin (Hrsg.): Demokratie 4.0. Bürgerbeteiligung und Mitverantwortung im Zeichen der Digitalisierung. Berlin o.J. (2021)

Stephanie Bock/Bettina Reimann/Klaus J. Beckmann: Auf dem Weg zu einer kommunalen Beteiligungskultur. Bausteine, Merkposten und Prüffragen. DIFU, Berlin 2013

Brigitte Grande/Edgar Grande/Udo Hahn (Hrsg.): Zivilgesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Aufbrüche, Umbrüche, Ausblicke. Bielefeld 2021

Lars Holtkamp: Bürgerbeteiligung in Städten und Gemeinden. Ein Praxisleitfaden für die Bürgerkommune, Berlin 2000

Helmut Klages/Angelika Vetter: Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene. Perspektiven für eine systematische und verstetigte Gestaltung. Berlin 2013

Alma Kolleck: Politische Diskurse online. Einflussfaktoren auf die Qualität der kollektiven Meinungsbildung in internetgestützten Beteiligungsverfahren. Baden-Baden 2017

Mario Martini/Saskia Fritzsche: Kompendium Online-Bürgerbeteiligung. Rechtliche Rahmenbedingungen für kommunale Beteiligungsangebote im Internet. München 2015

Patrizia Nanz/Miriam Fritsche: Handbuch Bürgerbeteiligung. Verfahren und Akteure, Chancen und Grenzen. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2012

Sabine Skutta/Joß Steinke (Hrsg.): Digitalisierung und Teilhabe. Mitmachen, mitdenken, mitgestalten! Baden-Baden 2019

Jürgen Smettan/Peter Patze: Bürgerbeteiligung vor Ort. Sechs Beteiligungsverfahren für eine partizipative Kommunalentwicklung. Bonn 2012

Stiftung Mitarbeit & ÖGUT (Hrsg.): Bürgerbeteiligung in der Praxis. Ein Methodenhandbuch, Bonn 2018

Stiftung Mitarbeit: Glaubwürdig beteiligen. Impulse für die partizipative Praxis, Bonn 2021

Kathrin Voss (Hrsg.): Internet und Partizipation. Bottom-up oder Top-down? Politische Beteiligungsmöglichkeiten im Internet. Wiesbaden 2014

 

Netzwerk Bürgerbeteiligung: http://www.netzwerk-buergerbeteiligung.de/

Wegweiser Bürgergesellschaft: https://www.buergergesellschaft.de/

Stiftung Mitarbeit: https://www.mitarbeit.de/

Überblick über kommunale Leitbilder und Leitlinien zur Bürgerbeteiligung: https://www.netzwerk-buergerbeteiligung.de/kommunale-beteiligungspolitik-gestalten/kommunale-leitlinien-buergerbeteiligung/

Bürgerbeteiligung in Bonn: https://www.bonn-macht-mit.de/

Bürgerbeteiligung in Heidelberg: https://www.heidelberg.de/hd,Lde/HD/Rathaus/Buergerbeteiligung.html